Persönlichkeit entwickeln
Die anspruchsvolle Reise vom unreifen Jüngling zum gereiften Mann
Das Modell der Archetypen kann uns dabei helfen.
von: Henri Marzillier
mit Fotos von: JJ Jordan
Analytische Psychologie und Archetypen
Der Schweizer Psychologe und Psychiater Carl Gustav Jung entwickelte in den 1930-iger Jahren die Analytische Psychologie. Im Zentrum seiner Persönlichkeitstheorie steht das Selbst und dessen Entwicklung durch erweitertes Bewusstsein. Mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers gehört sie zu den klassischen tiefenpsychologischen Richtungen.
Anders als Freud, der gesellschaftliche Normen als Über-Ich beschrieb, bemühte sich Jung darum, unsere Werte und Moralvorstellungen aus einem von ihm eingeführten „kollektiven Bewusstsein” herzuleiten. Vereinfacht gesagt, wird das kollektive Bewusstsein aus Märchen, religiösen oder mythischen Erzählungen der Menschheitsgeschichte gespeist. Die darin auftretenden Heldinnen und Helden waren für Jung Archetypen mit typischen Handlungsmustern, an denen wir unser Verhalten orientieren.
Der US-amerikanische Psychoanalytiker und bekennende „Jungianer” Robert L. Moore (1942-2016) widmete sich in seinen Arbeiten speziell der Psychologie des Mannes und dessen Mannwerdung. Er greift dabei auf Jungs Konzept der Archetypen zurück und beschreibt den männlichen Reifungsprozess als bewusste Integration individueller „Schattenanteile”. Sein Thema ist die Entwicklung vom Jungen-Bewusstsein zum Mann-Bewusstsein durch innere Wandlung und Heilung.
Carl Gustav Jung (1875-1961), Begründer der analytischen Psychologie.
Vier Archetypen männlicher Kraftpotentiale:
König, Krieger, Magier und Liebhaber.
Moore stellte in seinem Ansatz den entwickelten Archetypen die noch unreifen, kindlichen voran. In dem 1990 erschienen Werk „King, Warrior, Magician, Lover” beschreibt er, welche Archetypen beim männlichen Individuationsprozess zum Zuge kommen:
„Der erste Archetyp, der sich beim unfertigen Mann anschaltet, ist das Göttliche Kind. Das Wissbegierige Kind und das Ödipale Kind folgen und in der letzen Phase des Jugendalters regiert der Held. (Moore/Gillette)
Aus dem „göttlichen Kind” wird im Laufe seines Reifungsprozesses der „König” werden, aus dem „jugendlichen Helden” der „Krieger”, aus dem „wissbegierigen Kind” der „Magier” und aus dem „ödipalen Kind” der „Liebhaber”. Sowohl im kindlichen Stadium als auch im erwachsenen stellt Moore den idealen Zuständen dysfunktionale, niederpolige Ausprägungen seiner Archetypen zur Seite.
Die Schattenseiten dieser kindlichen und männlichen Figuren zeigen uns, welche Bedürfnisse nicht erfüllt sind und mit welchen Schutzstrategien jeweils gegengesteuert wird. Der gereifte Mann baut auf den maskulien Kräften des Jungenalters auf, statt sie zu zerschlagen.
Moore und Co-Autor Gillette haben mit ihrem Buch ein Standardwerk der Männerpsychologie vorgelegt, in dem sie die Reifung der Psyche als eine bewusste Integration eigener Schattenanteile beschreiben.
Vom göttlichen Kind zum König
Das göttliche Kind ist Moore zufolge als eines der Grundmuster unfertiger Männlichkeit in uns eingebettet. Es ist sowohl „allmächtig” (Mittelpunkt der Familie) als auch völlig hilflos und schwach. Im aktiven Pol erscheint es als perfektionistischer Hochstuhltyrann in der Grenzenlosigkeit seiner Ansprüche, im passiven Pol als schwächlicher Prinz ohne Elan, Neugier und Initiative.
Der König nimmt in diesem Ansatz die Rolle einer übergreifenden Instanz ein, die die Potentiale der übrigen Archetypen ordnet und in sich vereint. Er steht für Gerechtigkeit, Rationalität und Besonnenheit und sorgt für die Integration der übrigen Persönlichkeitsanteile.
Auf einem unreifen Entwicklungsstand erscheint der König in Gestalt des Tyrannen (aktiver Pol) oder in der des Schwächlings (passiver Pol).
Der König vermittelt zwischen unterschiedlichen Interessen. Er initiiert besonnen und verständnisvoll eine für alle Beteiligten vorteilhafte Lösung.
Vom Helden zum Krieger
Der Held hat eine heroische Einstellung zum Leben. Er ist mutig, will dabei sein, will seine Kräfte messen und natürlich gewinnen. Er erfüllt das veraltete Klischee vom „klassischen” Jungen. Im aktiven Pol wird er zum Klassentyrann, spielt seine Überlegenheit aus und muss immer Mittelpunkt stehen. Im passiven Pol geht er als „Feigling” jeder Auseinandersetzung aus dem Weg und erduldet Schikanen.
Der Krieger zeichnet sich durch Körperbeherrschung, Willensstärke und Schaffenskraft aus: Er geht offensiv an die Bewältigung der Aufgaben und Schwierigkeiten des Lebens heran. Seine Klarheit im Denken macht ihn zum Strategen und Taktiker, der seine Fähigkeiten und Grenzen richtig einschätzen kann. Ist die Persönlichkeit des Kriegers nicht ausgereift, zeigt er die zerstörerischen Eigenschaften des Sadisten (aktiver Pol) oder des Masochisten (passiver Pol).
Der Krieger löst sich von aggressiven Impulsen. Er bringt Kraft und Willenstärke zur Lösung von Konflikten im Sinne des Gemeinwohls ein.
Vom wissbegierigen Kind zum Magier
Das wissbegierige Kind ist neugierig. Sein Geist ist hellwach und möchte in allem nach dem „Warum” forschen. Das wissbegierige Kind ist Quell unser Neugier und abenteuerlustigen Impulse. Im aktiven Pol zeigt es sich als altkluger Schelm, der andere täuscht und ihnen mehr oder weniger ernste Streiche spielt. Im passiven Pol wird es zum antriebslosen, begriffsstutzigen Trottel, der körperlich unbeholfen wirkt.
Der Magier ist aufmerksam und vorausschauend. Er verfügt über ein breites, fundiertes Wissen. Er steht für Erfindungsreichtum und Kreativität und kann sein Wissen in die Praxis umsetzen. In der unausgereiften Variante erscheint uns der Magier als Manipulant (aktiver Pol) oder als „Ahnungsloser” (passiver Pol).
Der Magier überwindet die Tendenz, andere zu manipulieren oder Unkenntnis zu kaschieren. Er setzt sich mit Kreativität und Wissen für das Gemeinwesen ein.
Vom ödipalen Kind zum Liebhaber
Das ödipale Kind ist leidenschaftlich und warmherzig. Es ist offen für Beziehungen und sehnt sich nach Fürsorge und Verbundenheit, hinter der die Sehnsucht nach der unendlichen Liebe steht. Im aktiven Pol hängt es an Muttern‘s Rockzipfeln und träumt davon, die Mama für sich ganz allein zu haben. Im passiven Pol leidet es unter dem Gefühl der Vereinsamung und gibt sich seinen idealisierenden Träumen hin.
Der Liebhaber ist Symbol für pure Lebenskraft, gesunde Körperlichkeit und sinnlichen Genuss. Er steht für das Einssein mit der Welt, für Liebe, Erotik, Emotionalität und Herzlichkeit. Unausgereift begegnet uns der Liebhaber als Süchtiger (aktiver Pol) oder als Impotenter (passiver Pol).
Der Liebhaber widersteht dem Hang zu oberflächlich Miteinander. Er lässt sich auf Beziehungen in seinem Umfeld bewusst und offenherzig ein.
Parallelen mit anderen Modellen
Im Vergleich mit den Charaktertypen des Enneagramms, können wir uns die Archetypen als Persönlichkeitsanteile vorstellen, die in ihrer jeweiligen Ausprägung (Bauch, Herz oder Kopf) das Charaktermuster dominieren und formen. Moore beschreibt, wie sich der Entwicklungsprozess vom unreifen Jüngling zum gereiften Mann vollzieht. Betrachten wir diese Archetypen, fallen die Ähnlichkeiten mit den Charaktermustern im Enneagramm auf:
Treibt den Krieger nicht zuallererst die Bauchenergie? Ist der Magier nicht auf die Kopfenergie konzentriert, während der Liebhaber auf die Herzenergie zugreift? Als ordnende Instanz der drei unterschiedlichen Teamplayer tritt der König in Erscheinung. Die unreifen aktiven und passiven Pole lassen uns an überentwickelten oder blockierten Energiezustände aus dem Enneagramm denken und lenken unsere Aufmerksamkeit auf die unerfüllten frühkindlichen Bedürfnisse und die damit einhergehenden Schutzstrategien.
Auch zur Transaktionsanalyse lassen sich Parallelen finden: Sie geht davon aus, dass wir als Kleinkinder zwischen Grundüberzeugungen schwanken und uns schließlich für eine der Varianten von „Ich bin nicht O.K.” entscheiden. Im Erwachsenenleben agieren wir den damit verbundenen Mangel in „Spielen” aus, bei denen wir von einem Zustand in den anderen wechseln. Den Zuständen der Transaktionsanalyse stehen die Pole „aktiv” und „passiv” der Archetypen gegenüber. Es zeigt sich, dass es sich nicht um ein starres System, sondern eher um ein flexibles Hin und Her zwischen zwei Polen handelt.
Fazit
Im Wandel der Zeiten begegnen wir Archetypen verschiedenster Ausprägung in allen Weltkulturen: In der griechischen Antike, beim mittelalterlichen Minnesang, in religiösen Texten, in Volkssagen und Märchen, in Schlagern und Rocksongs, in Liebesfilmen oder Action-Thrillern - in allen Sujets führen uns die Protagonisten vor Augen, worum es der menschlichen Psyche letzten Endes geht: um Selbstbestimmung, Gemeinschaft und Sicherheit.
Moore zeigt uns mit seiner Arbeit auch, dass im Menschen beides angelegt ist - „das Gute” und „das Böse”. Ist es Schicksal, in welche Richtung wir uns entwickeln werden oder haben wir eine Wahl? Vielleicht ist eine gesunde Symbiose aus beidem die Lösung.
Mit seinem Konzept der Archetypen liefert uns Moore eine anschauliche Metapher für die Reifung männlicher Kraftpotentiale. Das Modell setzt das „innere Team” aus König (ordnende Instanz - Oberhaupt), Krieger (Bauchenergie), Magier (Kopfenergie) und Liebhaber (Herzenergie) zusammen und nimmt dabei gewollt oder ungewollt Bezug auf die Charaktertypen des Enneagramms.
Auch zur Transaktionsanalyse finden sich Parallelen: Den Zuständen der Transaktionsanalyse stehen die Pole „aktiv” und „passiv” der Archetypen gegenüber. In beiden Fällen wechseln wir je nach Situation von einem in den anderen Zustand bzw. Pol.
Die drei Modelle untersuchen Persönlichkeitsentwicklung aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven und gelangen doch zu ähnlichen Ergebnissen: für die Ausprägung der unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile sind die frühkindlichen Einflüsse maßgebend.