Gefühle kontrollieren

Warum wir lieber die Contenance bewahren

Schöne Gefühle kehren wir gern nach außen. Die unangenehmen wollen wir am liebsten verbergen. Gefühle entstehen im Abgleich mit unseren Bedürfnissen. Sind unsere Bedürfnisse erfüllt, stellt sich ein angenehmes Gefühl ein. Bleiben sie unerfüllt, fühlen wir Angst, Scham, Trauer oder Wut.

von: Henri Marzillier
mit Fotos von: Sabine van Straaten, Andrea Piacquadio

Hurra, wir fühlen noch!

Gefühle machen das Leben bunt und abwechslungsreich. Wir haben die schönen, großen Glücksgefühle, wenn wir uns geliebt und geachtet fühlen, wenn wir Teil eines Ganzen sind, wenn wir anderen ein Lächeln aufs Antlitz haben zaubern können. Und natürlich gibt es auch die schmerzhaften, traurigen, enttäuschten Gefühle, in Situationen, in denen wir ohnmächtig oder traurig sind, in denen wir uns nicht respektiert, gehört, gesehen und wertgeschätzt fühlen. Stellen wir uns kurz vor, wie es wäre, wenn es gar keine Gefühle geben würde. Wir müssten durch leblose Wüstenlandschaften wandern. Unser Dasein hätte allen Reiz verloren!

Gefühle haben und darüber reden? Gar nicht so einfach!

Gefühle haben wir in jedem Augenblick unseres Lebens, egal ob wir darüber nachdenken oder nicht. Wollen wir andere an unseren Gefühlen teilhaben lassen, müssen wir sie beschreiben. Das klingt erst einmal plausibel und recht simpel, erweist sich in der Praxis jedoch oft als schwierig.

Einerseits halten wir unsere starken Gefühle lieber unter Verschluss. Andererseits fällt es besonders Männern oft schwer, über ihre Gefühle Auskunft zu geben. Warum ist das so?

Wir haben gelernt, starke Gefühle zu unterdrücken

Es ist kein Wunder, dass die meisten von uns auch als Erwachsene in angespannten Situationen die Contenance bewahren wollen, denn Eltern zeigen ihren Kindern schon in frühen Jahren sehr deutlich, welche Gefühle erwünscht sind und welche nicht. Wer seine Stimmungen ungehemmt auslebt - herzzerreißend weint, wütend brüllt oder mit Bauklötzen um sich wirft, ist nicht „richtig”. Kinder werden schnell getröstet oder zum „Ausbocken” auf ihr Zimmer geschickt. Auch bei fröhlicher Ausgelassenheit, heißt es oft: „Nun ist ja wieder gut, krieg dich mal wieder ein!”


Was lernen wir daraus? Starke Gefühlsausbrüche - Jammern, Schreien, wütend mit dem Fuß aufstampfen, Gegenstände werfen, auf dem Tisch tanzen … all das ist falsch und deshalb sehr gefährlich! In jungen Jahren stehen Sicherheit, Geborgenheit, Versorgung mit Nahrung und Unterkunft ganz oben auf der kindlichen Bedürfnis-Skala. Wir sind von unseren Eltern abhängig. Lehnen die uns ab, bekommen wir es mit der Angst zu tun - mit der Ur-Angst, verstoßen und damit nicht mehr versorgt zu sein!

Eltern und andere Bezugspersonen vermitteln ihren Zöglingen bereits in frühstem Kindesalter, welche Gefühle erwünscht sind und welche nicht. Als Kinder merkten wir schnell - starke Gefühlsausbrüche sind unerwünscht! Wir lernten daraus: „ICH BIN FALSCH, wenn ich meinen Gefühlen freien Lauf lasse!” Falsch zu sein bedeutete für uns damals akute Lebensgefahr!

Dieses starke Gefühl haben wir ins Teenager- und Erwachsenenalter mitgenommen. Wir unterdrücken unsere starken Gefühle lieber, als Ablehnung zu erfahren. Weil unser System nicht sicher zwischen positiven und negativen Gefühlen unterscheiden kann, dämpfen wir unsere Gefühle offenbar gleich im Ganzen.

Wie entstehen Gefühle eigentlich?

Die meisten unserer inneren Regungen sind uns gar nicht bewusst. Reize von außen – der vertrauensvolle Blick eines Kindes, das vorwurfsvolle Gesicht des Vorgesetzen, das dankbare Lächeln der älteren Dame - all diese Signale landen über unsere Sinnesorgane in unserem entwicklungsgeschichtlich älteren Hirnareal, dem limbische System (Thalamus, Amygdala - auch „Reptiliengehirn” - vgl. Osterath, Hamm).

Wir - also unser „Reptiliengehirn” - entscheiden blitzschnell, ob der Reiz nützlich oder schädlich für uns ist. Je nachdem, wie die Entscheidung ausfällt, veranlasst unser Gehirn die passenden Körper-Reaktionen: Unsere Gesichtszüge verändern sich, unser Blutdruck steigt oder sinkt, wir lächeln, schwitzen, zittern, erröten, atmen heftiger… und so weiter – das alles passiert „instinktiv”. Wir sind emotional entweder entspannt oder angespannt, ohne dass wir uns dessen sofort bewusst werden. Unser Unterbewusstsein verarbeitet mehrere Millionen Informationseinheiten (Bits) pro Sekunde. Viele dieser Prozesse laufen ab, ohne dass wir ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken.

Parallel zu den Vorgängen im limbischen System verarbeitet unser Gehirn die eintreffenden Signale in seinem moderneren Teil (Hirnrinde, Sehrinde und Hippocampus) viel gründlicher aber auch langsamer. Hier werden „lediglich” 50 Bits pro Sekunde verarbeitet. Wir nehmen Reize jetzt bewusst wahr und interpretieren sie. Wir vergleichen das aktuelle Ereignis mit früheren Erlebnissen und ziehen unsere vorhandenen Erfahrungen als „Blaupause” für unser aktuelles Verhalten heran.

Wir überprüfen Reize aus dem Umfeld blitzschnell und entscheiden, ob von ihm eine Gefahr für uns ausgeht oder nicht. Parallel dazu vergleichen wir den aktuellen Reiz mit vergangenen Erlebnissen und nehmen unsere abgespeicherten Erfahrungen als „Blaupause” für unsere aktuelle Reaktion.

In diesem Moment wandeln wir unbewusste emotionale Reaktionen des limbischen Systems in bewusste Gefühle um. Gefühle sind also durch äußere Reize ausgelöste Emotionen, die in der Hirnrinde verarbeitet werden. Gefühle gehören zu den spontanen Lebensregungen wie Atmen, Gehen, Weinen usw. (vgl. Osterath, Hamm).

Bei der Wahl unserer Gefühle folgen wir unseren Erfahrungen und Gewohnheiten, die widerum auf unseren Glaubenssätzen beruhen. Gefühle sind weder falsch noch wahr. Für uns persönlich sind sie wahr, weil wir sie so und nicht anders erleben (vgl. Spezzano). Dabei müssen unsere Gefühle keine über die Situation hinausreichende Wahrheit enthalten, denn wir können mit unseren Interpretationen, aus einer „objektiven Perspektive” betrachtet, durchaus falsch liegen. Durch bewusste Aufmerksamkeit können wir bis zu einem gewissem Maß jedoch steuern, wie sehr Gefühle unser Verhalten beeinflussen.

Welche Gefühle haben wir denn überhaupt?

Der US-amerikanische Psychologe Paul Ekman hat bei seinen Forschungen Ende der 1970-iger Jahre anhand der Mimik von Probanden unterschiedlicher Kulturkreise sieben von einander unterscheidbare Grund-Gefühle (Basis-Emotionen) identifiziert: Freude, Überraschung, Ekel, Ärger, Trauer, Angst und Verachtung. Je nach Intensität steuern diese Gefühle in die eine oder andere Richtung.

Gefühle kommen und gehen

Schauen wir uns die Halbwertzeit von Gefühlen genauer an, stellen wir schnell fest, dass sie nicht von Dauer sind: sie kommen und gehen! Die Freude über die neue Küchenmaschine, eine nette Begegnung in der Nachbarschaft oder das neue Mobiltelefon verblasst mit der Zeit. Woran liegt das? Wir rufen die Freude über „das Neue” immer wieder auf, um uns an ihm zu erbauen. Bei jedem Mal fällt das Ergebnis schwächer aus. Unsere Freude nutzt sich ab. Wir haben uns daran gewöhnt, die neue Erfahrung in unser System integriert und vergessen, dass wir uns darüber freuen könnten. Wir erachten die Dinge inzwischen als selbstverständlich.

Genauso verhält es sich mit dem Groll, den wir gegen die herablassende Schwiegermutter hegen, die Wut auf den arroganten Chef oder die Ohnmacht während des unsachlichen Streitgesprächs mit dem Partner! Die in uns aufwallenden Emotionen werden schwächer, unsere Gefühle verlieren ihre Kraft, bis sie schließlich ganz verflogen sind.

Sind wir unseren Gefühlen ausgeliefert?

… natürlich nicht, denn sie basieren ja auf Glaubenssätzen, die wir uns im Laufe unseres Lebens zugelegt haben. Je nachdem, welche Glaubenssätze wir gestärkt haben, nehmen wir auch neue Situationen durch unsere individuelle Brille wahr. Denke ich, die Welt um mich herum ist gefährlich, feindlich und ungerecht, sehe ich in jeder Handlung nur ihr Gefahrenpotential.
Verkaufstrainer Mike Dierssen drückt es in einem Podcast der Jürgen-Höller-Akademie so aus:

„Der Mensch ist nur das, wozu ihn die Gedanken, die Emotionen machen. Ich kann jederzeit entscheiden, welchen meiner Emotionen ich gestatte, meinen Geist zu beherrschen” Mike Dierssen

Wir können in jeder Situation entscheiden, ob wir uns als Opfer der äußeren Umstände oder als deren Gestalter verhalten wollen.

Gefühle erst zulassen, dann steuern!

Der einhellige Aufruf von Psychologen, Coaches oder Mentoren lautet heute: Lass deine Gefühle zu! Spüre in sie hinein. Unternimm’ nichts dagegen! Nur so können wir unsere Gefühle wirklich wahrnehmen. In unserem Organismus ist immer noch die frühkindliche Ur-Angst verschaltet, wenn wir uns von äußeren Gefahren bedroht fühlen. Bringen wir den Mut auf, uns unseren negativen Gefühlen wie Angst oder Trauer zu stellen, müssen wir ihnen zunächst einmal standhalten. Das ist je nach Umstand und Zeitpunkt für viele von uns herausfordernd und bedarf in einigen Fällen einer professionellen Begleitung!

Hätten Gefühle eine Stimme, würden sie uns wahrscheinlich zurufen: „Schau mich doch mal an! Hier bin ich und du kümmerst dich überhaupt nicht um mich. Ich gehöre doch zu dir! Muss ich denn immer lauter werden, damit du mich endlich wahrnimmst und dich um mich kümmerst?”

Der deutsche Erfolgstrainer und Lifecoach Damian Richter fragt auch Klienten, die unter einem schweren Kindheitstrauma leiden, wie lange sie einer dysfunktionalen Energie noch Aufmerksamkeit schenken und ihr Leben damit weiter in dunkle Schatten tauchen wollen.

Gefühle kontrollieren?

„Erstmal tief durchatmen”, heißt es oft, wenn Gefühle uns zu überwältigen drohen. Menschen, die zufrieden mit sich und der Welt sind, scheinen ihre Gefühle ziemlich gut im Griff zu haben. Sie entscheiden aktiv, welche Gefühle ihren Geist beherrschen dürfen (Mike Dierssen). Wie funktioniert das nun?

Die Schritt-für-Schritt-Anleitung für Gefühlskontrolleure

  • Die Verantworung für die eigenen Gefühle übernehmen

    Gefühlskontrolleure übernehmen Verantwortung für ihre Gefühle, denn sie wissen, dass sie Ergebnis der Gedanken sind, die sie sich vorher mit Hilfe ihrer Glaubenssätze selbst gemacht haben.

  • Gefühle bewusst wahrnehmen

    Gefühlskontrolleure verdrängen unangenehme Gefühle nicht, sondern nehmen sie bewusst wahr. Sie schenken ihren Gefühlen Aufmerksamkeit indem sie sich fragen, wo das Gefühl im Körper spürbar ist (Rumoren im Bauch, Ziehen in den Schultern, Stechen im Herzen)

  • Gefühle nicht bewerten

    Gefühlskontrolleure betrachten die Situation und die damit einhergehenden, eigenen Gefühle als neutral und entscheiden damit bewusst, nicht in die Opferfalle zu tappen.

  • Die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper richten

    Gefühlskontrolleure konzentrieren sich auf ihre Atmung. Sie atmen bewusst tief in den Bauch hinein und stellen sich im Geiste vor, wie sie die Gefühle anschließend ausatmen. Mit dieser einfachen Übung verschaffen sie sich Zeit, um die Situation zu überdenken.

  • Ursache und Wirkung klären

    Gefühlskontrolleure rekapitulieren, welche Gedanken sie hatten, bevor die starken Gefühle auftraten. Sie machen sich bewusst, dass nicht der Impuls von außen Auslöser für ihre Gefühle war, sondern Ergebnis ihrer eigenen Gedanken.

  • Eine neue Perspektive wählen

    Gefühlskontrolleure entscheiden, welche Gedanken sie statt dessen denken wollen. Sie fragen nach den Motiven des anderen, versuchen dessen Gründe nachzuvollziehen und entwickeln so Mitgefühl für ihr Gegenüber. Jedes Gefühl lässt sich ein anderes transformieren, wenn wir gewillt sind, einen neutralen, nicht bewertenden Standpunkt einzunehmen.

Gefühle mit anderen austauschen

Wollen wir uns über unsere Gefühle mit anderen austauschen, müssen wir die Gefühle identifizieren, damit wir unser Innenleben beschreiben können. Förderlich für den gemeinsam Austausch ist, bei unserem Gefühl zu bleiben und das Verhalten des anderen dabei nicht zu bewerten: Es ist ein Unterschied, ob wir sagen „Ich war traurig, als du unser Treffen abgesagt hattest.” oder ob wir sagen: „Deinetwegen bin ich frustriert, weil du unser Treffen einfach abgesagt hast.” Im ersten Fall übernehmen wir die Verantwortung für unser Gefühl. Im zweiten Fall schlüpfen wir in die Opfer-Rolle und machen aus unserem Gefühl einen Vorwurf, indem wir dem Anderen die Verantwortung für unser Gefühl übergeben wollen. Mehr dazu im Beitrag Bedürfnisse befriedigen.

Fazit

  • Äußere Reize sprechen zuerst unsere Instinkte an. Wir reagieren mit Emotionen. In der zweiten Phase der Reizverarbeitung ordnen wir die aktuellen Reize vorhandenen Mustern aus unserem Erfahrungsschatz zu. Dabei überprüfen wir, ob das Ereignis unseren Bedürfnissen dienen oder schaden könnte. Im Ergebnis stellt sich ein Gefühl ein.
  • Wir haben gelernt, starke Gefühle zu unterdrücken. Hiermit entsprechen wir einerseits einer gesellschaftlichen Norm, die von uns eine Gefühlskontrolle erwartet. Andererseits verzichten wir mit dem Unterdrücken von Gefühlen auf Lebensqualität.
  • Oft fällt es uns schwer, unsere Gefühle zu bestimmen und benennen. Die Forschung hat das Phänomen untersucht und eine Systematik der Emotionen und Gefühle entwickelt. Mit Hilfe der Begriffe Freude, Vertrauen, Angst, Überraschung, Trauer, Abneigung, Groll und Erwartung können wir uns selbst darüber klarer werden, wie wir uns gerade wirklich fühlen.
  • Indem wir unsere Gefühle bewusst wahrnehmen und hinterfragen, erschließen wir uns die Möglichkeit, sie angemessen zu steuern, uns mit anderen darüber auszutauschen und in Beziehung zu setzen.
Literatur & Inspiration:
Jürgen Werner, Ulf Tödter: Überzeugen - die Kunst, andere zu gewinnen, Berlin 2009
Chuck Spezzano: Wenn es verletzt, ist es keine Liebe, Augsburg 1995
Brigitte Osterath, Alfons Hamm: Bewusste Gefühle, www.dasgehirn.info
Damian Richter: https://damian-richter.com
Jürgen Höller: https://www.juergenhoeller.com/
Fotos:
Sabine van Straaten: via unsplash.com
Andrea Piacquadio: via pexels.com

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